Zwei Wellen massereicher Sterne aus dem Sternhaufen R136: Neue Erkenntnisse über das Verhalten sogenannter Runaways

Wissenschaftler haben im Sternhaufen R136 eine große Zahl massereicher Sterne entdeckt, die dynamische Ausreißer sind – sogenannte Runaways, die sich mit 100.000 km/h aus ihrer Entstehungsregion fortbewegen. Diese Art von Sternen liefert wichtige Erkenntnisse über Sternbewegungen und ihre Auswirkungen auf die Galaxienentwicklung.

Cluster R136
Der Supersternhaufen R136 im Tarantelnebel (30 Doradus) der Großen Magellanschen Wolke. Bild: NASA, ESA, P. Crowther (University of Sheffield)

Sterne entstehen in sogenannten Sternentstehungsgebieten, das sind Regionen mit viel interstellarer Materie, vor allem Gas und Staub. Das Innere dieser Sternentstehungsgebiete kann sehr unterschiedlich beschaffen sein, beispielsweise gibt es Areale, die eher massereiche Sterne hervorbringen, und Regionen, in denen eher massearme Sterne entstehen.

Massereiche Sterne sind extrem helle und vergleichsweise kurzlebige Sterne mit mindestens acht Sonnenmassen. Sie sind nur von kurzer Lebensdauer und explodieren schließlich als Supernova, normalerweise in ihrer Sternentstehungsregion. Ein Beispiel eines massereichen Sterns ist Rigel im Sternbild Orion.

Innerhalb dieser Sternentstehungsgebiete entstehen massereiche Sterne oft in dichten Sternhaufen, sogenannten Clustern, also in der Nähe anderer massereicher Sterne. Dabei kann es passieren, dass einige dieser massereichen Sterne – etwa ein Drittel der neu entstehenden Sterne – aus der Entstehungsregion herausgeschleudert wird, wie nun eine Studie zeigt.

Eigenbewegung von Sternen
Eigenbewegung von Sternen relativ zu R136 im Feld in und um R136 mit zuverlässiger Astrometrie. Die blauen Sterne stellen die in dieser Arbeit gefundenen Ausreißer dar, die von R136 stammen, während die grauen Sterne nicht von R136 stammen. Bild: Stoop et al. 2024.

Die Untersuchung unter der Leitung von Mitchel Stoop von der Universität von Amsterdam, die jüngst in Nature erschienen ist, liefert neue Erkenntnisse über die Mechanismen, die diesen dynamischen Ausreißern zugrunde liegen.

Der Untersuchungsschwerpunkt lag dabei auf dem jungen, massereichen Sternhaufen R136, der sich in der Großen Magellanschen Wolke befindet, einer Nachbar- oder Satellitengalaxie unserer Milchstraße. Cluster R136 ist einer der dichtesten und massereichsten Sternhaufen dort – ein sogenannter Supersternhaufen.

Zwei Episoden des Sternauswurfs

Bei der Bildung von Sternhaufen können Beinahe-Kollisionen der neugeborenen Sterne dazu führen, dass Sterne aus dem jungen Haufen herausgeschleudert werden. Die Forscher haben Daten vom europäischen Gaia-Weltraumteleskop ausgewertet und in Cluster R136 dabei 55 massereiche Ausreißersterne (Runaways) entdeckt. Es ist das erste Mal, dass eine so große Anzahl von Hochgeschwindigkeitssternen aus einem einzigen Sternhaufen gefunden wurde.

Die Astronomen fanden heraus, dass der junge Sternhaufen R136 in den letzten paar Millionen Jahren bis zu ein Drittel seiner massereichsten Sterne mit einer Geschwindigkeit von über 100.000 km/h ins All geschleudert hat. Diese Sterne entfernen sich bis zu 1000 Lichtjahre von ihrem Geburtsort, bevor sie am Ende ihres Lebens als Supernova explodieren und einen Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch erzeugen.

Dabei gab es nicht nur einen einzigen Zeitraum, in dem die Sterne dynamisch ausgestoßen wurden, sondern zwei: „Die erste Episode ereignete sich vor 1,8 Millionen Jahren, als sich der Sternhaufen bildete, was zum Auswurf von Sternen während der Bildung des Sternhaufens passt“, erklärt Stoop. „Die zweite Episode ereignete sich erst vor 200.000 Jahren und wies ganz andere Merkmale auf.“ Beispielsweise hätten sich die wegfliegenden Sterne dieser zweiten Episode langsamer bewegt und wurden nicht wie in der ersten Episode in zufällige Richtungen, sondern in eine bevorzugte Richtung geschossen, so Stoop.

Verteilung der hellsten Sterne am Himmel in R136 und 30 Doradus
Verteilung der hellsten Sterne am Himmel in R136 und 30 Doradus. Blaue Kreise stellen von R136 kommende Ausreißer dar, rote Kreuze kennzeichnen Sterne, die als Mitglieder von R136 klassifiziert sind, und grüne Quadrate kennzeichnen Sterne, die weder von R136 stammende Ausreißer noch Mitglieder von R136 sind. Bild: Stoop et al. 2024.

„Wir glauben, dass die zweite Episode des Wegschießens von Sternen auf die Wechselwirkung von R136 mit einem anderen nahegelegenen Sternhaufen zurückzuführen ist (der erst 2012 entdeckt wurde)“, erläutert Co-Autor Alex de Koter, ebenfalls von der Universität Amsterdam. Die zweite Episode könnte darauf hindeuten, dass sich die beiden Sternhaufen in naher Zukunft vermischen und verschmelzen werden, so de Koter.

Die Bedeutung dynamischer Ausreißer

Der Studie zufolge sind zwischen 23 % und 33 % der hellsten Sterne, die ursprünglich in R136 entstanden sind, dynamische Ausreißer. Die Zahl ist deutlich höher als frühere Modellvorhersagen, die den Anteil dynamisch ausgestoßener Sterne deutlich niedriger angesetzt hatten, was sich demzufolge auf unser Verständnis von massereichen Sternen bei der Galaxienentwicklung auswirken könnte.

Massereiche Sterne haben einen starken Einfluss auf ihre Umgebung. Wenn ein signifikanter Anteil dieser Sterne aus den Sternhaufen ausgestoßen wird, hat dies weitreichende Konsequenzen, weil die Sterne ihre Energie und Materie nicht mehr nur lokal im Haufen verteilen, sondern über weite Bereiche des interstellaren Mediums.

Massereiche Ausreißer könnten demnach auch eine Rolle bei der Erwärmung und Strukturierung der umgebenden Galaxie spielen. Zukünftige Forschungen werden sich daher mit der Frage beschäftigen, wie diese dynamischen Prozesse in verschiedenen Sternhaufen und Galaxien variieren und welche Effekte sie auf die Entwicklung von Galaxien haben.

---
Quelle:

Stoop, M., de Koter, A., Kaper, L. et al. (2024): Two waves of massive stars running away from the young cluster R136. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-024-08013-8