Sind die Kipppunkte in der Antarktis bald erreicht?

Das über Jahrtausende erreichte Minimum des Meereises rund um die Antarktis erstaunte im Jahr 2023 die weltweite Wissenschaft der Welt. Ist die ein Indiz für grundlegende globale Veränderungen?

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Wie genau verändert sich der Südozean?

Im vergangenen Jahr erschienen Berichte, wonach das Meer um den Südkontinent in einen neuen Zustand übergegangen sei und sich damit einem möglichen Klima-Kipppunkt nähere. Nun stützen zwei neue wissenschaftliche Publikationen diese Vermutung. Gleichzeitig deuten sie auf mögliche globale Konsequenzen der Veränderungen am südlichen Pol der Erde hin.

Mehrere Forschungsgruppen beschäftigen sich mit der Thematik

Bereits im September 2023 hatten zwei australische Forscher die These aufgestellt, das Meer um den Südkontinent habe sich in kritischer Weise verändert. Dies sei nach ihrer Meinung ein Indikator für einen möglichen Klima-Kipppunkt. Zwei weitere Publikationen aus diesem Jahr unterstützen diese Vermutung. Außerdem wird darin auf die möglichen globalen Konsequenzen der Veränderungen am südlichen Pol der Erde hingewiesen.

Für uns Menschen auf der nördlichen Hälfte der Erde erscheint die Antarktis als abgelegen und unbekannt. Sie ist aber im Zusammenspiel der weltweiten ozeanischen Strömungssysteme keineswegs isoliert. Der den gefrorenen Kontinent umströmende Südozean spielt eine entscheidende Rolle für eine Ausgeglichenheit in den Meeresströmungen und der Energiehaushalt der Polarregionen beeinflusst das Wetter bis in die Tropen.

Der Energiehaushalt der Erde

Die Regionen nahe dem Äquator nehmen sehr viel Sonnenenergie auf. Dagegen verlieren die Polarregionen Energie. So entsteht ein konstanter Energiestrom von den Tropen in höhere Breiten, was wiederum das Wetter in den Zonen dazwischen antreibt. Dies wirkt sich beispielsweise auf den Jetstream und die Tiefdruckgebiete in Europa aus.


Die beiden Wissenschaftler Hamish D. Prince und Tristan S. L’Ecuyer von der University of Wisconsin-Madison in den USA haben in ihrer Analyse zusammengestellt, wie sich aus ihrer Sicht der Energiehaushalt auf der Südhalbkugel verändert. Ihrer Analyse erschien am 9.Februar 2024 in der Fachzeitschrift »Journal of Climate«.

Demzufolge nimmt die Antarktis immer mehr Wärme auf, während sich die Abstrahlung nicht verändert. Die Ursache dafür sehen die Forscher im deutlichen Rückgang des antarktischen Meereises seit etwa 2015. Dies führe dazu, dass das darunterliegende Wasser immer mehr Sonnenwärme aufnehme. Im Zeitraum von 2000 bis 2020 sei das Energiedefizit der Antarktis, der Wettermaschine der Südhalbkugel, um 1,4 Prozent gesunken. Nicht berücksichtigt haben die Wissenschaftler das extreme Meereis-Minimum des vergangenen Jahres. Eine geringere Meereisbedeckung rund um die Antarktis würden das Defizit möglicherweise noch verstärken.

Klimawissenschaftler warnen davor, aus relativ kurzen Datenreihen langfristige lineare Trends abzuleiten. Sie bestätigen aber die sich verdichtenden Indizien, die darauf hindeuten, dass es langfristig auf dem Südozean weniger Eis geben wird.

Was passiert genau mit dem Meereis?

Das antarktische Meereis scheint sich tatsächlich einem Kipppunkt zu nähern. Statistische Daten und Argumentationen präsentierte eine Arbeitsgruppe um Will Hobbs von der University of Tasmania am 6. März 2024, ebenfalls im »Journal of Climate«. Die Fachleute sehen zwei Anzeichen für den Prozess, den sie als »critical slowing down« bezeichnen.

Ein Indiz ist eine höhere Schwankungsbreite in der Meereisbedeckung, die seit 2006 in Satellitendaten zu beobachten sei. Außerdem habe das Eis eine Art »Erinnerungsvermögen«, mit dem sich die Tendenz der Eisausdehnung der Saison zuvor verstärkt im nächsten Jahr wiederfindet. Man bezeichnet diese Eigenschaft als Autokorrelation. Eine Kombination von höherer Schwankungsbreite und zunehmender Autokorrelation ist in komplexen Systemen ein statistisches Anzeichen dafür, dass ein Übergang in einen neuen Zustand bevorstehen könne.

Zum Team von Will Hobbs gehört auch Edward W. Doddridge, dessen Studie aus dem September ich in diesem Artikel bereits genannt und verlinkt habe. Die neue Veröffentlichung stützt auch dessen Vermutung für die Ursache des Trends, wonach der entscheidende Einfluss auf das Meereis gewechselt habe. Noch während des 20. Jahrhunderts entschied die Atmosphäre darüber, wie weit sich das Eis nach Norden ausbreitete. Um das Jahr 2015 wird die Eismenge von warmem Oberflächenwasser im Südozean bestimmt. Nach einem Bericht des Spektrum-Magazins deute dies darauf hin, dass der Klimawandel mit einigen Jahren Verspätung nun auch in der Antarktis angekommen ist.

Fazit

Die Unsicherheit von Prognosen zum zukünftigen Verlauf unterstreicht ein generelles Problem mit kritischen Übergängen: erst hinterher ist man schlauer und kann sagen, dass man einen solch kritischen Punkt erreicht oder sogar überschritten hat. Zu allen Berichten bestehen andere Interpretationen, was auch daran liegt, dass der Mangel an Daten aus der Antarktis alle Arten von Schlussfolgerungen unsicher macht.

Sollte sich die These von einem Überschreiten des Kipppunktes bestätigen, wäre das Meereis-Minimum von 2023 nur der Anfang. Dann würden wärmeres Wasser, weniger Meereis und mehr aufgenommene Sonnenenergie nach und nach die Südpolarregion komplett verändern.

Derartige Veränderungen ziehen sich vermutlich über Jahrzehnte hinweg. Der Südozean hat eine immense Weite und die antarktischen Eisreserven sind gewaltig. Größe und Bedeutung der Südpolarregion für das globale Klima bedeuten aber, dass schon kleine Veränderungen um den tiefgefrorenen Kontinent weltweite Folgen haben können.