Sensationelle MIT-Studie: Mikroskopisch kleine Änderungen im Eis bestimmen die Fließgeschwindigkeit ganzer Gletscher!
Forscher haben entdeckt, dass für den Eisfluss in Gletschern maßgeblich die Mikrostruktur des Eises verantwortlich ist. Durch diese Erkenntnis können künftig bessere Voraussagen über den Anstieg der Meeresspiegels durch Gletscherschmelze getroffen werden.
Durch das Schmelzen der Eiskappen und Gletscher fließen enorme Wassermassen ins Meer – mit der Folge, dass der Meeresspiegel in einem bisher ungeahnten Ausmaß ansteigt. Forscher haben nun ein neues Modell zur Gletscherschmelze entwickelt, anhand dessen der Meeresspiegelanstieg besser vorhergesagt werden kann. Die Studie von Wissenschaftlern des MIT zeigt, dass der Gletscherfluss von mikroskopisch kleinen Defekten im Eis abhängt.
Die in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Fließgeschwindigkeit eines Gletschers eingeschätzt werden kann, je nachdem, für welche Art der mikroskopischen Defekte das Eis anfällig ist. Die Wissenschaftler entwickelten ein neues Modell für das Fließen von Gletschern, indem sie die Beziehung zwischen mikro- und makroskaliger Verformung verwendeten.
Mikroskaliges und makroskaliges Verhalten
„Diese Studie zeigt die Auswirkungen von mikroskaligen Prozessen auf makroskaliges Verhalten“, sagt Meghana Ranganathan, Leiterin der Studie am MIT Department of Earth, Atmospheric and Planetary Sciences (EAPS) und jetzt als Postdoc an der Georgia Tech. „Diese Mechanismen spielen sich auf der Ebene der Wassermoleküle ab und können letztendlich die Stabilität des westantarktischen Eisschildes beeinflussen.“
„Allgemein gesagt, beschleunigen die Gletscher ihr Wachstum, und es gibt eine Menge Varianten dazu“, ergänzt Brent Minchew, Co-Autor der Studie und EAPS Associate Professor. „Dies ist die erste Studie, die einen Schritt vom Labor zu den Eisschilden macht und damit beginnt, die Stabilität von Eis in der natürlichen Umgebung zu bewerten. Das wird letztendlich zu unserem Verständnis der Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Meeresspiegelanstiegs beitragen.“
Die globale Erwärmung und das beschleunigte Gletscherschmelzen hat zu einem rapiden Anstieg des Meeresspiegels geführt. Der Verlust des Polareises trägt zwar wesentlich zur Zunahme der Wassermassen bei, aber er ist auch die größte Unsicherheit bei den Vorhersagen.
Zwei Mechanismen bringen das Eis zum Fließen
„Ein Teil davon ist ein Skalierungsproblem“, erklärt Ranganathan. „Viele der grundlegenden Mechanismen, die das Eis zum Fließen bringen, spielen sich in einem sehr kleinen Maßstab ab, den wir nicht sehen können. Wir wollten genau herausfinden, welche mikrophysikalischen Prozesse den Eisfluss steuern, die in den Modellen zum Meeresspiegelanstieg nicht berücksichtigt wurden.“
Die neue Studie des Teams baut auf früheren Experimenten aus den 2000er Jahren der Universität von Minnesota auf, bei denen untersucht wurde, wie sich kleine Eissplitter verformen, wenn sie physikalisch belastet und zusammengedrückt werden. Dabei wurden zwei mikroskopische Mechanismen entdeckt, durch die das Eis ins Fließen gerät: Das Versetzungskriechen, bei dem molekülgroße Risse durch das Eis wandern, und das Korngrenzengleiten, bei dem einzelne Eiskristalle gegeneinander gleiten, wodurch sich die Grenze zwischen ihnen durch das Eis bewegt.
Demzufolge hängt die Empfindlichkeit des Eises gegenüber Spannungen bzw. die Wahrscheinlichkeit, dass es fließt, davon ab, welcher der beiden Mechanismen vorherrscht. Insbesondere reagiert das Eis empfindlicher auf Spannungen, wenn mikroskopische Defekte eher durch Versetzungskriechen als durch Gleiten der Korngrenzen entstehen.
Ranganathan und Minchew erkannten, dass diese Erkenntnisse auf mikroskopischer Ebene das Verständnis des Fließens von Gletschern auf größeren, glazialen Maßstäben ändern könnten.
„Aktuelle Modelle für den Anstieg des Meeresspiegels gehen von einem einzigen Wert für die Empfindlichkeit des Eises gegenüber Spannungen aus und halten diesen Wert über einen gesamten Eisschild konstant“, so Ranganathan. „Diese Experimente haben gezeigt, dass die Empfindlichkeit des Eises tatsächlich sehr unterschiedlich ist, je nachdem, welcher dieser Mechanismen im Spiel ist.“
„Wenn der Klimawandel die Gletscher schrumpfen lässt, könnte sich das auf die Empfindlichkeit des Eises gegenüber Belastungen auswirken“, sagt Ranganathan. Die Instabilitäten, die künftig in der Antarktis erwartet werden, könnten nun mithilfe des neuen Modells besser vorausgesagt werden.
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Quelle:
Ranganathan, Meghana, and Minchew, Brent (2024): A modified viscous flow law for natural glacier ice: Scaling from laboratories to ice sheets. Proceedings of the National Academy of Sciences, 121 (23). https://hdl.handle.net/1721.1/155148