Können sich Erwachsene noch ändern? – Das sagen Harvardforscher über die späten Entwicklungsphasen des Menschen
Dass Kinder sich in rasantem Tempo entwickeln, ist allgemein bekannt. Doch ist es auch im Erwachsenenalter noch möglich, sich zu ändern? Harvard-Forscher sagen: Auch im Erwachsenenalter gibt es noch Entwicklungsstufen – doch es gibt zu wenig Forschung dazu.
Auch als Erwachsene verändern wir uns fortlaufend. Viele Veränderungen streben wir bewusst an, aber einige geschehen auch unbewusst – und das nicht immer zum Besseren. Der Frage, mit welchen Veränderungen wir es im Erwachsenenalter zu tun haben, haben sich nun drei Harvard-Forscher im Podcast von Harvard Gazette gewidmet.
– Robert Waldinger, Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School und Direktor der Harvard Study on Adult Development.
Moderiert von Samantha Laine Perfas diskutierten Mahzarin Banaji, Robert Waldinger und Richard Weissbourd, welche Dynamiken dem individuellen Wandel zugrundeliegen. Der Dialog behandelte psychologische Einsichten im Erwachsenenalter und gesellschaftliche Herausforderungen des Wandels.
Zwischen Lebensanfang und Lebensende
Psychologen hätten lediglich die beiden Enden des Lebens betrachtet, findet Mahzarin Banaji, eine experimentelle Psychologin, die implizite Überzeugungen erforscht. Grund dafür sei, dass wir bisher nur an bestimmten Entwicklungsphasen interessiert waren, besonders an der frühen Kindheit und den Jugendjahren. Danach herrsche weitestgehend Stille, bis wir ein weit höheres Alter erreichen, in dem wir über das letzte Lebensjahrzehnt nachdenken. „Aber mit jedem Jahrzehnt verändern wir uns. Wir sind völlig andere Menschen“, stellt Banaji fest.
Seit einiger Zeit würde man jedoch beginnen, genauer hinzuschauen und die Erfahrungen der gesamten Lebensspanne zu betrachten. Die Wissenschaft erkenne allmählich, wie viele Veränderungen psychologisch und biologisch im Laufe des Erwachsenenalters stattfinden, erklärt Robert Waldinger, Direktor der Harvard Study on Adult Development. „Aber lange Zeit war die Entwicklung im Erwachsenenalter eine Art Stiefkind der Entwicklungswissenschaft.“
Richard Weissbourd, Dozent an der Harvard Graduate School of Education und Direktor von „Making Caring Common“ bestätigt das: „Ich glaube nicht, dass wir eine starke Vorstellung von Veränderung im Erwachsenenleben haben, und das ist ein echtes Problem.“ Weitestgehend herrsche die Vorstellung, dass man gut oder schlecht geboren wird und sein ganzes Leben lang gut oder schlecht sein wird. Dabei gebe es durchaus Hinweise darauf, dass man sich lebenslang ändere.
Diese Fähigkeit zur Veränderung sei jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt. Empirische Daten etwa belegen, dass einige von uns temperamentbedingt dazu neigen, sich Veränderungen zu widersetzen. „Was die Frage betrifft, wie sehr wir Veränderungen begrüßen oder uns ihnen widersetzen, sind wir Menschen in einem Spektrum angeordnet, vielleicht sogar biologisch“, erklärt Waldinger.
„Es gibt Menschen, die von Natur aus sehr risikoscheu sind, und es gibt andere Menschen, die Risikojunkies sind“, fügt Weissbourd zu. Der Wissenschaftler weist darauf hin, dass wir uns immer weiterentwickeln, ob wir es wollen oder nicht: „Das frühe Erwachsenenalter verändert einen. Elternschaft verändert einen. Das mittlere Lebensalter verändert einen oft. Das Altern verändert einen. Es gibt also unvermeidliche Entwicklungsveränderungen, die stattfinden.“
Erkenntnis der Endlichkeit des Lebens
Beim Älterwerden des Menschen liege die große Veränderung in unserer Wahrnehmung der Endlichkeit des Lebens, meint Waldinger. Mit etwa Mitte 40 würde man beginnen, ein stärkeres Gefühl für die Endlichkeit des Lebens zu bekommen. Auch das Gefühl der Sterblichkeit würde ab diesem Alter zunehmen.
„Man kann das ziemlich genau dokumentieren“, sagt Waldinger. Und das würde zu einer ganzen Reihe von Veränderungen führen, insbesondere wie wir uns selbst und unseren Zeithorizont sehen. „Es gibt einige Dinge, die sich allein aufgrund der Tatsache des Todes ändern werden.“
Desillusionierung und Leid
Demnach würden die meisten Menschen irgendwann in ihrem Leben eine Desillusionierung erleben. Menschen können auf Desillusionierung reagieren, indem sie verbittern, sich zurückziehen und zynisch werden. „Sie können auf Desillusionierung aber auch reagieren, indem sie ein umfassenderes Verständnis der Realität entwickeln und in der Welt aufblühen und gedeihen“, sagt Weissbourd. „Über Desillusionierung wird nicht genug gesprochen, und ich denke, dass dies für viele Menschen eine einschneidende Erfahrung ist.“
„Es ist erwähnenswert, dass nicht jede Veränderung, die wir erleben, wünschenswert oder vorteilhaft ist“, ergänzt Laine Perfas, etwa wenn „wir ein Trauma oder negative Erfahrungen erleben, wenn man eine wirklich schlimme Trennung hinter sich hat und diese Erfahrung einen zynisch und liebesunwillig macht“. Veränderungen hängen demnach oft von Schmerz und Motivation ab – bewusste Veränderung resultiere sogar häufig aus dem Wunsch, Leiden zu lindern.
Menschen erfahren auch im Erwachsenenalter tiefgreifende Veränderungen – wie Alterung oder Elternschaft, schmerzlich oder auch bereichernd – und formen unsere Persönlichkeit, stellen die Entwicklungswissenschaftler fest. Das Leben befindet sich demnach fortwährend und durch Entwicklungsprozesse geprägt im Wandel.