Die paradoxe Langsamkeit des Denkens: Neue Erkenntnisse zur Denkgeschwindigkeit des menschlichen Gehirns

Das menschliche Gehirn ist zu erstaunlichen Höchstleistungen fähig. Doch für das Denken als solches wird nur ein Bruchteil der Kapazität aufgewendet, wie nun US-Forscher herausfanden. Deren aktuelle Studie liefert Aufschluss über die Geschwindigkeit menschlicher Gedanken.

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Das menschliche Gehirn kann zwar Sinneseindrücke von einer Milliarde Bits pro Sekunde verarbeiten, aber nicht besonders schnell denken. Bild: Typhaine Therry/Pixabay

Zwischen den verschiedenen Arten des Denkens herrscht ein deutliches Ungleichgewicht: Während unsere sensorischen Systeme Umweltinformationen mit einer Geschwindigkeit von einer Milliarde Bits pro Sekunde verarbeiten, liegt die Denkgeschwindigkeit des Gehirns bei lediglich 10 Bits pro Sekunde. Das fand eine neue Studie des California Institute of Technology (Caltech) heraus.

Die jüngsten Studienergebnisse stellen die Wissenschaftler vor neue Rätsel und erfordern grundlegend neue Überlegungen zur Funktionsweise des Gehirns.

Die zentrale Frage der Forschung unter der Leitung von Doktorandin Jieyu Zheng der Abteilung für Biologie und Biological Engineering des Caltech war, warum sich das Gehirn darauf beschränkt, nur eine Sache gleichzeitig zu denken, während unsere Sinne eine enorme Datenflut verarbeiten. Die Studienergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlicht.

Lineare vs. parallele Verarbeitung von Gedanken

Ein Bit, die kleinste Informationseinheit in der Informatik, verdeutlicht den Kontrast: Während eine WLAN-Verbindung 50 Millionen Bits pro Sekunde verarbeitet, extrahiert das menschliche Gehirn lediglich 10 Bits aus den Milliarden an sensorischen Informationen. „Das ist eine extrem niedrige Zahl“, konstatiert Markus Meister, Professor für Biowissenschaften, in dessen Labor die Untersuchungen stattfanden.

In jedem Moment extrahieren wir nur 10 Bits aus den Milliarden, die unsere Sinne aufnehmen, und nutzen diese 10, um die Welt wahrzunehmen und Entscheidungen zu treffen.

Aber was geschieht mit den übrigen Informationen? Das Gehirn besitzt mehr als 85 Milliarden Neuronen, von denen etwa ein Drittel dem Kortex, dem Zentrum des höheren Denkens, zugeordnet ist. Einzelne Neuronen können theoretisch weitaus mehr Informationen übertragen, doch bleibt ungeklärt, warum dies in der Praxis nicht geschieht.

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Das langsame logische Denken steht der schnellen Verarbeitung von Sinneseindrücken gegenüber. Bild: David Courbit/Unsplash

Ein weiteres Rätsel liegt in der linearen Verarbeitung von Gedanken. Während unsere sensorischen Systeme parallele Datenströme verarbeiten, kann das Gehirn Gedanken nur sequentiell durchlaufen. Ein Beispiel: Schachspieler können lediglich eine Zugfolge nach der anderen analysieren. Zheng und Meister zufolge könnte diese Einschränkung einen evolutionären Ursprung haben.

Evolution des Denkens

Früheste Lebewesen nutzten ihr Gehirn hauptsächlich zur Navigation, um sich auf Nahrung zuzubewegen oder Raubtieren zu entkommen. Diese lineare Orientierung könnte sich in der menschlichen Denkweise erhalten haben. „Das menschliche Denken kann als eine Form der Navigation durch einen Raum abstrakter Konzepte betrachtet werden“, so Zheng und Meister.

Tatsächlich werden die 10 Bit pro Sekunde nur in Worst-Case-Situationen benötigt.

Die Wissenschaftler argumentieren, dass die evolutionäre Entwicklung des Menschen in einer Umgebung stattfand, in der langsames Denken ausreichend war. „Unsere Vorfahren haben eine ökologische Nische gewählt, in der die Welt langsam genug ist, um das Überleben zu ermöglichen“, sagen die Forscher. „Tatsächlich werden die 10 Bit pro Sekunde nur in Worst-Case-Situationen benötigt, und die meiste Zeit ändert sich unsere Umgebung in einem viel gemächlicheren Tempo.“

Grenzen der Mensch-Computer-Interaktion

Die Studie hat auch Konsequenzen für technologische Visionen, etwa die direkte Kopplung von Gehirn und Computer: Während Tech-Visionäre vorschlagen, diese Schnittstellen zu nutzen, um die Kommunikationsgeschwindigkeit zu erhöhen, zeigt die Forschung, dass das Gehirn selbst über eine neuronale Schnittstelle nicht schneller als mit 10 Bits pro Sekunde arbeiten würde. Diese Erkenntnis setzt eine klare Grenze für die Machbarkeit entsprechender Technologien.

Die Forscher hoffen, dass die Ergebnisse neue Impulse für die Neurowissenschaften geben. Ein zentrales Ziel künftiger Studien wird sein, die mechanistischen Grundlagen der Denkgeschwindigkeit und die Kodierung der sequentiellen Verarbeitung im Gehirn besser zu verstehen. Die Erkenntnis, dass unser Gehirn durch eine natürliche Geschwindigkeitsbegrenzung charakterisiert ist, könnte fundamentale Fragen zur menschlichen Wahrnehmung und Entscheidungsfindung klären.

Quellenhinweis:

Zheng, J., & Meister, M. (2024): The unbearable slowness of being: Why do we live at 10 bits/s? Neuron. https://www.cell.com/neuron/abstract/S0896-6273(24)00808-0