Der blinde Fleck der Arktisforschung: Was hat es damit auf sich?
Kaum eine Region der Welt ist für das Klima so relevant wie die Arktis. Zur Früherkennung sind komplette und genaue Daten notwendig. Ein Großteil der Arktis ist in den letzten Jahren zu einem blinden Fleck geworden, denn er gehört zu Russland. Die Folgen sind weitreichend.
Nehmen wir an, es gäbe einen Ort, an dem sich die Zukunft der Erde entscheidet. Der uns Auskunft darüber gibt, was wir in Europa noch landwirtschaftlich anbauen. Oder der uns sagt, welche Ländern unserer Erde bewohnbar bleiben oder ob Inseln im Pazifik untergehen. Nehmen wir also an, diesen Ort gäbe es und wir wissen genau, wie wichtig er ist. Er ist uns aber nicht komplett erschließbar und Erkenntnisse aus seiner Existenz entziehen sich uns.
Unmögliche Annahme – oder Realität?
Die Arktis ist genau dieser Ort, denn die Erwärmung erfolgt in etwa dreimal so schnell wie im Rest der Welt. Der allmählich abschmelzende Eisschild von Grönland sorgt für einen graduellen Anstieg des Meeresspiegels. Mit dem Auftauen des Permafrosts im arktischen Boden wird die Erderwärmung zusätzlich beschleunigt, denn dadurch gelangen Kohlendioxid und Methan in die Atmosphäre. Die fehlende Kälte und das aus den Gletschern ins Meer fließende Schmelzwasser sind Ursachen dafür, dass sich Meeresströmungen verändern – und sich damit auch die restliche Welt.
Viele dieser Prozesse sind teilweise unumkehrbar. Nur wenn die Klimawissenschaft versteht, was sich genau in der Arktis abspielt, können Prognosen für die Klimafolgen abgegeben werden.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen gegen den Aggressor ist die Hälfte der arktischen Landmasse und mehr als die Hälfte der arktischen Küste für internationale Forschende unzugänglich.
So wurde der Hotspot zum blinden Fleck
Eine Studie mit dem Titel »Towards an increasingly biased view on Arctic change« betrachtet einen zunehmend verzerrten Blick auf den arktischen Wandel. Die Studie wurde in den vergangenen Wochen im Wissenschaftsmagazin »Nature« veröffentlicht.
So wurde die Arktis für die Klimaforschung zu einem blinden Fleck, denn die russischen Daten, die seit dem Krieg fehlen, seien ein Riesenverlust für die Arktisforschung, wie das Autorenteam in seiner Präsentation der Studie erklärte.
Viele Wissenschaftler haben seit Jahrzehnten viel Zeit in Sibirien als Teil der russischen Arktis verbracht. Dort erforschten sie die arktische Biodiversität und die Auswirkungen von Niederschlag und Trockenheit auf Boden, Pflanzen und Permafrost. Nach dem Überfall der Ukraine durch Russland im Februar 2022 wurde die Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftlern schwieriger, wie bereits die Neue Zürcher Zeitung NZZ am 11.4.2022 berichtete.
Der blinde Fleck verursacht eine große Ungenauigkeit
Die Studie warnt sehr deutlich vor einem unvollständigen und verzerrten Blick auf den arktischen Wandel. Sie bezieht sich dabei direkt auf Interact, einem internationalen Netzwerk für landgestützte Forschung und Messungen in der Arktis. Es gilt als das grösste Netzwerk von landbasierten Forschungsstationen in der arktischen Region. Von den 60 einbezogenen Stationen nördlich des 59. Breitengrads liegen 17 in Russland. Ausgewertet wurden durch die Forschenden acht Variable, darunter Lufttemperatur, Gesamtniederschlag, Schneehöhe und Biomasse der Vegetation. Ein Ziel der Studie war die Antwort auf die Frage war, inwieweit sich diese Werte mit und ohne russische Daten verändern würden.
In ihrer Zusammenfassung schreiben die Autoren, dass der Ausschluss russischer Stationen zu einer großen Ungenauigkeit führe. Dabei lägen einige Verzerrungen in einer ähnlichen Größenordnung wie die erwarteten Verschiebungen aufgrund des Klimawandels bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Es werde also schwierig sein, zu unterscheiden, welche Fehlprognosen dem Klimawandel zuzuschreiben sind bzw. an welchen die fehlende Datenlage aus Russland ursächlich sei.
Es gibt nur Verlierer!
Die Arktis-Forschung kann Russland nicht egal sein, denn das Land wird in Teilen aus Sicht der Wissenschaft zu den stark von den Klimafolgen betroffenen Ländern gehören.
Russland selbst als eher skeptisches Land beim Thema Klimawandel sieht den arktischen Wandel als wirtschaftliche Chance, denn fossile Ressourcen wie Gas und Öl, aber auch die für die Umstellung auf erneuerbare Energien dringend benötigten Metalle der seltenen Erden liegen in arktischen Böden. Unter Zweiflern an den Klimaveränderungen, wie Russland, sorgt das Auftauen des Permafrosts und dem Abschmelzen des Eises für eine bessere Zugänglichkeit an die fossilen Energieträger und die seltenen Erden. Auch neue, direktere logistische Handelswege werden freier.
Russland hat bereits in seiner Arktisstrategie 2020 festgehalten, wie es Ressourcen nutzbar machen und Seewege ausbauen will. 2022 stufte Russland die Arktis in der maritimen Doktrin als »lebenswichtig für nationale Interessen« ein.
Kein Boykott des arktischen Rats durch Russland - bis jetzt
Der Arktische Rat ist das wichtigste Forum der Anrainerstaaten in der Arktis. Es setzt sich mit Umweltfragen auseinander, ist aber nicht mit geopolitischen Fragen beschäftigt. Nach der Invasion Russlands in der Ukraine hat das Gremium die Zusammenarbeit mit Russland ausgesetzt. Das Problem dabei: der Rat ist ein konsensbasiertes Gremium, in dem nur alle acht Mitgliedsstaaten (Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden, USA) gemeinsam entscheiden können.
Derartige internationale Netzwerke haben ohne Russland deutlich weniger Bedeutung. Der Arktische Rat ist derzeit beeinträchtigt und auf organisatorischer Lösungssuche. Unter der aktuellen Führung von Norwegen hat der Rat im Februar 2024 eine Lösung gefunden, mit der zumindest auf wissenschaftlicher Ebene eine Zusammenarbeit stattfinden kann. Damit trifft sich die politische Ministerebene nicht, gewisse Arbeitsgruppen dagegen schon.
Russland drohte zwar im Februar damit, aus dem Arktischen Rat auszutreten. Doch das ist bisher nicht geschehen, da ein Austritt offenbar (noch) nicht im Interesse Russlands ist.
Die Arktisforschung braucht Russland
Aber braucht Russland auch die Arktisforschung? Es ist für alle Seiten unmöglich, die Hälfte der Arktis aus der Arktisforschung auszuschließen. Für die russischen Forschenden schwindet die Unterstützung. Kontakte sind abgebrochen oder brechen ab.
Die Teilnahme an internationalen Projekten sei nach Aussage der Wissenschaftler kaum möglich. Es gibt Fragen, die bis auf Weiteres nicht beantwortet werden können. Die Konsequenzen aus dem blinden Fleck der landbasierten Arktisforschung gehört dazu.
Wird der Druck der Klimafolgen auf Russland ausreichen, um den wissenschaftlichen wieder beizutreten oder wird sich das Land mit unabsehbaren Folgen für die Arktisforschung weiter isolieren? Nicht nur der Frieden in Europa entscheidet sich mit dem Krieg in der Ukraine, sondern auch die Welt wichtige Forschungsbasis in der Arktis.