Wenn der Berg ins Rollen kommt – heftiges Schlammlawinen-Jahr 2024 in den Alpen

Heftige Starkregenereignisse haben in den Alpen zuletzt vermehrt gefährliche Schlammlawinen ausgelöst. Ganze Hänge geraten ins Rutschen, und Muren zerstören Straßen, Brücken und Häuser. Doch was genau verursacht diese Naturgewalten, und wie kann man sich besser davor schützen?

Hinweisschild in den Alpen, dass vor der Gefahr von Murenabgängen bei Gewitter warnt.
In besonders gefährdeten Regionen der Alpen warnen Hinweisschilder Besucher und Wanderer vor Muren. Vor allem Starkregen und Gewitter machen Schlammlawinen in machen Regionen wahrscheinlich. Quelle: Adobe Stock.

Ein Sommerurlaub in den Alpen – die Sonne scheint, die Wanderwege sind gut besucht, und plötzlich kommt der Berg ins Rollen! Was wie ein Szenario aus einem Katastrophenfilm klingt, ist in den vergangenen Monaten in den Alpenregionen zur gefährlichen Realität geworden. Am 31. August etwa wurden mehr als 60 Wanderer in Südtirol von der Außenwelt abgeschnitten, als gegen 17:30 Uhr ein Erdrutsch am Adamello-Gebirgsmassiv niederging und Straßen und Wege unter mehr als 1000 m³ Gestein begrub.

Murenabgänge, auch Schlammlawinen genannt, haben 2024 in zahlreichen Tälern schwere Schäden angerichtet, und die Gefahr scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen. Doch was genau sind Muren, und warum treten sie plötzlich so häufig auf? Ein Blick auf das Wetter, den Klimawandel und die speziellen Bedingungen in den Alpen zeigt: Die Natur verändert sich – und die Menschen sollten darauf vorbereitet sein.

Wie entstehen Muren?

Es braucht gar nicht so viel, um so einen Berg „ins Rollen zu bringen“ – im wahrsten Sinne des Wortes. Alles beginnt mit extremen Niederschlägen über den Bergen. Wenn warme, feuchte Luftmassen aus dem Mittelmeerraum beispielsweise durch ein Tief gegen die Alpen gedrückt werden, sind die Bedingungen für heftige Regenfälle perfekt.

Entweder sind es direkt die Fronten und Niederschlagsbänder des Tiefs, die den Starkregen verursachen. Manchmal bilden sich aber auch direkt über den Alpen mächtige Gewitterwolken, wenn die schwülwarmen Luft auf die scharfe Sonneneinstrahlung in den Hochgebirgen trifft. So können sich Cumulonimbuswolken quasi in den Bergen festsetzen, ohne weiterzuziehen.

Der Niederschlag sammelt sich zwar zunächst auf hochalpinen Wiesen, kleineren Rückstaubecken und Gletscherseen, doch bei kräftigem Regen sind die Speicherkapazitäten schnell erschöpft. Die Wassermassen „schießen“ dann talwärts. Dabei nimmt das Wasser nicht nur den kürzesten Weg (querfeldein), sondern auch alles mit, was ihm im Weg steht – von lockerer Erde über Geröll bis hin zu größeren Gesteinsbrocken. Bald schon mischt sich alles zu einer unaufhaltsamen Schlammlawine, die talwärts rollt.

Tweng Wasserfall nach einem Muren Abgang im Lungau, Österreich
Der Gebirgsfluss Marbach im österreichischen Lungau (Salzburger Land) nach einem Murenabgang. Größere Gesteinsbrocken haben den Fluss aufgestaut und einen Wanderweg unpassierbar gemacht. Quelle: Adobe Stock.

Die Mechanik einer Schlammlawine

Und noch etwas: Wenn anhaltender Regen erst einmal alles durchweicht, geraten durchaus auch Hänge ins Rutschen. Aufgrund ihrer Masse und der Beschaffenheit der Berge rutschen diese zwar nicht wie eine Schneelawine einfach immer weiter talabwärts, sondern bleiben träge unterhalb der Abbruchkante liegen. Dabei versperrt oder behindert das Geröllfeld wiederum die natürlichen Abflüsse des Wassers.

Kommt beides zusammen – talabwärts fließende Wassermassen und eine Gesteinslawine – wird aus einem harmlosen Wasserstrom eine unberechenbare Naturgewalt. Die Mischung aus Wasser, Erde und Geröll fließt wie eine zähflüssige Masse ins Tal – die immer mehr Fahrt aufnimmt. Dabei wirken die kleineren Steine und der Schlamm wie Schmiermittel, die größere Gesteinsbrocken regelrecht mitzieht.

Diese Brocken können dann Häuser, Straßen und Brücken zerstören, als wären sie nur Spielzeug. Die kinetische Energie, die sich dabei aufbaut, ist enorm. Selbst wenn das Gefälle nachlässt, bleibt die Mure gefährlich, weil sie weiter mit hohem Tempo ins Tal rauscht und auf dem Weg alles mit sich reißt.

Wettervorhersage: Wie gut kann man Muren voraussagen?

Starkregen lässt sich mittlerweile relativ gut vorhersagen, doch die genaue Entstehung einer Mure bleibt oft schwierig. Zum einen sind es oft nur wenige Hundert Meter, die darüber entscheiden, ob eine Gewitterzelle genau über einem Hang abregnet oder unbemerkt im nächsten Tal niedergeht.

Zum anderen sind die Alpen stark zergliedert, und jedes Tal hat seine eigenen geologischen Charakteristika. Das heißt, nicht jedes Alpental oder jeder Berg besitzt eine gleich große Hangrutschgefahr. Zudem hat die Vegetation, z.B. ob Bäume und Wälder existieren, einen Einfluss auf die Murenbildung.

13.07.2024 Silvretta Hochalpenstraße, Vorarlberg (AUT) 1960 - 1390 mMurenabgang mit 3-4 m hohe Schuttablagerung auf berühmter Hochpass-Straße, niemand verletzt
19.07.2024Passo del Gallo in Livigno-Alpen (ITA) 2900 - .1800 m
4 Murenabgänge mit Gestein und Geröll, 9 Urlauber in Lawinentunnel eingeschlossen, ein Motoradfahrer tödlich verletzt
20.07.2024 Langkofel, Dolomiten, Südtirol (ITA) 2700 - 2100 m Spektakulärer Felssturz an Nordwand, des Langkofel, 2 Wanderer verletzt
23.07.2024San Giovanni di Fassa / Rosengarten-Massiv Dolomiten (ITA)1950 - 2360 mBerühmte Alpen-Wanderroute durch Geröll begraben, niemand verletzt
05.08.2024Passtürtunnel in
Stuben/ Vorarlberg (AUT)
2400 - 1400 m Wassermassen setzten Schotterhang zwischen Langen und Alpe Rauz in Bewegung, ergoss sich über Passtürtunnel, keine Verletzten
12.08.2024
Brienzer Rothorn/ Brienzersee (SWI)2000 -
700 m
Geröll- und Schlammlawinen verschüttet meherer Häuser in Gemeinde Brienz, Autos fortgespült, Hauptstraße und Bahnstrecke verschüttet, keine Verletzten
17.08.2024St. Anton in Vorarlberg (AUT)2100 - 1300 mMassive Schlammlawine (etwa 50 000 m^³) verschüttet wichtige Arlberger Bundesstraße und überrollt Nobel-Skiort St. Anto, 35 Häuser erfasst, niemand verletzt
31.08.2024Adamello-Gebirge in Südtiroler-Alpen (ITA) 3500 - 2500 m Knapp 1000 m³ Gestein- und Geröllabgang | mehr als 60 Wanderer von Außenwelt abgeschnitten
Beispielhafte Übersicht über Murrenabgänge in den Alpen im Sommer 2024. Das regelmäßige Auftreten von Felsstürzen, Geröll- und Schlammlawinen verdeutlicht die zunehmende Gefährdung der alpinen Regionen für solche Ereignisse.

Frühwarnsysteme, die auf Wetterdaten und Radarbildern basieren, können zumindest vor der Gefahr extremen Starkregens oft mit einigen Stunden Vorlauf warnen. In besonders gefährdeten Gebieten sind technische Schutzmaßnahmen wie Geröllsperren oder Rückhaltebecken wichtige Verteidigungsmaßnahmen, die durchaus auch Anwendung finden.

Klimawandel: Ein heißes Thema

Es ist kein Zufall, dass Muren in den letzten Jahren häufiger und intensiver auftreten. Der Klimawandel heizt nicht nur die Temperaturen auf, sondern sorgt auch für mehr Feuchtigkeit in der Atmosphäre. Warme Luft kann mehr Wasser aufnehmen, und das bedeutet: Wenn es regnet, dann oft richtig heftig.

In den Alpen, wo extreme Wetterlagen auf enge Täler und steile Hänge treffen, sind die Folgen besonders dramatisch. Mit jedem Starkregenereignis wächst die Gefahr einer Mure, die sich unaufhaltsam ihren Weg ins Tal bahnt.

Schlamm- und Gerölllawinen sind natürlicher Teil der Geomorphologie der Alpen. Was neu ist, ist die Intensität und Häufung dieser Murenabgänge infolge einer Zunahme von Starkregenereignissen.

Ein weiterer damit zusammenhängender Fakt sind die schmelzenden Gletscher. Zum einen erbringen sie im Sommerhalbjahr einen zusätzlichen Eintrag an Wasser, zum anderen legt das tauende Eis Gesteinsbrocken und Geröllfelder offen, die als potenzieller Geröllkörper von Muren und Schlammlawinen mit transportiert werden können. Experten sind sich sicher: Je wärmer unser Klima wird, desto häufiger müssen wir mit solchen Naturkatastrophen rechnen.

Ein Wanderer steht auf einem Bergkamm in den Dolomiten und beobachtet mit dem Fernglas ein aufziehendes Unwetter.
Ein Wanderer auf einer Bergtour beobachtet ein in der Ferne aufziehendes Unwetter. Starkregenfälle und der durchwachsene Sommer haben in diesem Jahr eine Vielzahl von Schlamm- und Gerölllawinen in den Alpen ausgelöst. Glücklicherweise sind nur wenige Menschen zu Schaden gekommen.Quelle: Dall-E.

Vorsicht ist besser als Nachsicht

Auch wenn Muren oft überraschend und plötzlich kommen, heißt das nicht, dass man ihnen schutzlos ausgeliefert ist. Moderne Frühwarnsysteme und Schutzbauten können Leben retten und Schäden minimieren, wie am oben geschilderten Fall aus den Südtiroler Alpen.

Es ist ein kleines Wunder, dass bei diesem Murenabgang kein Wanderer zu Schaden gekommen ist. Unterhalb des Murenabgangs befand sich mit dem "Rifugio Giuseppe Garibaldi" eine Schutzhütte in der die Wanderer aufgrund des schlechten Wetters offensichtlich Zuflucht gesucht hatten.

Das Wichtigste bleibt: Wer in den Alpen unterwegs ist, sollte a) das Wetter gut im Auge behalten und mögliche Vorwarnungen erst nehmen. Außerdem sollte man sich b) über die Gegebenheiten vor Ort erkundigen, etwa ob das Wandergebiet für Geröll- oder Gesteinsabgänge gefährdet ist.

Denn eines ist sicher: Die Natur bleibt unberechenbar, wir können nur lernen, mit ihr zu leben. Mit einem wachsamen Blick auf Wetter-App und Wetterbericht und der richtigen Vorbereitung lässt sich das Risiko in eine Gefahrensituation zu geraten minimieren.